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Autismus - Was ist das?

Aktualisiert: 26. Mai 2023

Autismus ist ein Sammelbegriff für eine angeborene Entwicklungsstörung. Die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Genetische Einflüsse und biologische Abläufe können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die Autismus-Spektrum-Störung auslösen. Der Verlauf der Entwicklungsstörung ist nur schwer vorherzusagen. Heilbar ist es nicht. Aber Betroffene können lernen mit ihrer autistischen Wahrnehmung umzugehen. Um dies zu erreichen, brauchen Sie jedoch die richtige Unterstützung durch ihr Umfeld (Therapeuten, Eltern, Lehrpersonen, Freunde, Arbeitgeber etc.). Ich habe den Heilpädagogen und Autismus-Therapeuten Benjamin Bembnista von der Heilpädagogischen Austismuspraxis Lüneburg zu der Autismus-Spektrum-Störung befragt. Denn Aufklärung ist immer der erste Schritt!


Benjamin, was genau bedeutet Autismus-Spektrum-Störung?

Aus medizinischer Sicht würde man auf den Begriff "tiefgreifende Entwicklungsstörung" mit neuronalen Besonderheiten gehen. Das bedeutet wir haben auch im neuronalen Wahrnehmen Schwierigkeiten. Und die können so raumeingreifend sein, dass je nach Ausmaß das ganze Denken, Wahrnehmen und die Handlungskompetenzen sehr besonders sein können. Aber ich sage lieber "die Person mit Autismus-Spektrum". Denn der Störungsbegriff kann eine Einbahnstrasse sein.


Wie anders bzw. wie besonders verhalten sich denn die Menschen mit autistischen Zügen?

Das Spektrum ist sehr groß und man kann sich hier verschiedene Ebene anschauen.

Zum Beispiel den kognitiven Bereich. Dieser reicht von hochgradig geistig beeinträchtigt über durchschnittliche Intelligenz bis hin zu in Teilgebieten überdurchschnittliches Intelligenzniveau.


Wir können auch im kommunikativen Bereich schauen: Es gibt Betroffene, die keine Hemmungen haben auf fremde Menschen zuzugehen und nicht wissen, dass man andere nicht einfach anfassen darf oder es für den Gegenüber nicht so toll ist, wenn man Stunden über sein Lieblingsthema erzählt und sich ständig wiederholt. Andere Klienten bauen keinen Kontakt auf und können dir nicht in die Augen schauen. Die sprachliche Handlungskompetenz reicht von nicht sprechen, lautieren, einzelne Lieblingswörter sagen bis hin zu sich einer sehr eloquenten Ausdrucksweise.


Im Bereich der Handlungskompetenz kann die Person deutlich handlungseingeschränkt sein, manche können beispielsweise nicht allein zur Toilette gehen oder haben Probleme ein- oder mehrschrittige Aktivitäten auszuführen; „Wie öffne ich eine Flasche, um mir etwas zu Trinken einzuschenken?" oder "Wie knüpfe ich Kontakte?". Andere Betroffene sind wiederum in einzelnen Handlungsbereichen sehr kompetent, z.B. Klassischerweise in der IT-Branche, dem Buchhaltungsbereich usw.


Hat mein Kind Autismus?
Was ist Autismus?

Du hast die sprachlichen Fähigkeiten gerade schon angesprochen. Hast du viele Klienten, die auch logopädisch versorgt werden?

Ja, insbesodnere im Kita- und Grundschulbereich. Ca. 40% aller Menschen aus dem Autismus-Spektrum haben keine aktive Sprache. Der Großteil dieser Menschen hat hochgradige kognitive Beeinträchtigungen. Die anderen sind die Personen, die im Bereich Mutismus anzusiedeln sind. Wo also geistig und organisch alle Gegebnenheiten zum Sprechen vorhanden sind, aber dennoch keine Sprache entsteht. In solchen Fällen arbeiten wir dann gemeinsam mit den Sprachtherapeuten mit Methoden der unterstützenden Kommunikation; zum Beispiel einem Talker - einer Art Tablet, auf dem eine bestimmte APP mit Soundausgabe installiert ist und über die man Wörter und Bilder ansteuern kann.


Ab wann kann man die Autismus-Spektrum-Störung diagnostizieren?

Theoretisch kann man frühkindlichen Autismus sehr früh erkennen. Die jüngsten Kinder sind bei uns im sogenannten Starterprogramm. Das beginnt in der Theorie ab 6 Monaten. In der Praxis sehe ich die Kinder aber eher mit 2-3 Jahren das erste Mal.


Was hat es mit den Begriffen Overload, Meltdown und Shutdown auf sich?

Das neurotypische Gehirn ist auf Effizienz angeelgt. Das heißt wir verarbeiten nur bestimmte Informationen in bestimmten Situationen, um den ganzen Tag überlebensfähig zu sein. Beim autistischen Gehirn ist das anders. Es nimmt mehr Informationen auf oder fokussiert sich auf die „falschen Infos“. Das führt dann irgendwann zu einer Reizüberladung. Damit stecken wir im sog. Overload. Es kommen also zu viele Reize rein und der Mechanismus kann nicht mehr unterscheiden, was ist jetzt wichtig und was nicht. Das führt zu einer Überladung. Sämliche Impulsaktivitätten brechen aus. Fremdaggressionen gegen ander Personen, Gegenstände selbstverletzendes Verhalten können Folgen sein. Das ist das der Meltdown-Effekt, wo sich also ganz viel Aktivität zeigt, um aus der Überladung rauszukommen. Und im Anschluss dessen, wenn der Körper quasi nicht mehr kann, kommt er in eine Shutdown-Situation. Hier kann es sein, dass vegetative Funktionen nachlassen - sich Betroffene beispielsweise einnässen, einkoten, in die Fötusstellung gehen und nicht mehr ansprechbar sind.


Wie kann man diesen Situationen entgegen wirken?

Reize reduzieren, damit der Gegenüber sich regulieren kann. Das was wir automatisiert ausblenden, müssen Menschen mit Austismus ganz bewusst über die Ansprache anderer Reize ausblenden. Es ist wichtig den Betroffenen zu kennen und zu wissen, was ihn reguliert; das kann schon ein festerer Händedruck oder ein Igel-/Quetschball als sensorischer Reiz sein. Dieser lenkt von den anderen Reizen ab und gibt dem Betroffenen die Möglichkeit sich runterzufahren bzw. seine Reizwahrnehmung in eine bestimmte Richtung zu lenken, in dem Fall zu dem taktilen Reiz.


Stimmt die Aussage „Autisten leben in ihrer eigenen Welt“?

Ich würde das größer fassen, denn das ist eine Frage des Blickwinkels. Wenn Du als neurotypische Person bei einem Selbsthilfetreff von Asperger-Autisten wärst, dann wäre wahrscheinlich schnell klar, wer in einer anderen Welt lebt und das sind dann nicht die Menschen mit Autismus. Jeder von uns hat eine subjektive Wahrnehmung!


Fakt oder Mythos - Haben Autisten stärkere Gefühle als wir? Sind sie zum Beispiel schneller gereizt?

Das hängt mit der intramodalen Besonderheit zusammen. Wenn mein Reizfilter alle Reize reinlässt, selbst kleinste Nuancen, die neurotypische Menschen in ihrem Neurospektrum nicht wahrnehemn, bis ich natürlich schneller "überreizt". Das ist aber eine Wahrnehmungsverarbeitung, keine Frage der Gefühlslage.

Bei Gefühlen hängt das damit zusammen, dass viele Menschen mit Autismus, Gefühle nicht in Abstufungen betrachten. Der Grad zwischen absolut toll und absolut schlecht kann bei den Betroffenen also ziemlich schmal sein. Wo wir verschiedene Abstufungen sehen, gibt es bei Menschen mit Autismus quasi nur Umbruchsituationen und dann kippt es vom Plus ins Minus.

Fällt es Menschen mit Autsimus schwerer Freundschaften aufzubauen?

Ja, weil Ihnen mitunter die unausgesprochenen Regeln des sozialen Miteinanders nicht so ganz vertraut sind (z.B. worüber kann ich wie lange reden, was könnte interessant sein, wann kann ich reden und wann ist mein Gegenüber dran). Das sorgt dann beispielsweise relativ schnell dafür, dass ich als derjenige wahrgenommen werde, der etwas seltsam ist. Und Leute die seltsam sind, haben es im Kollektiv leider schwerer. Daher ist Aufklärung so wichtig!

Stimmt es, dass Autisten Probleme haben Ironie oder Humor zu verstehen und selbst anzuwenden?

Ich würde es so formulieren: Menschen aus dem autistischen Spektrum sind in der Regel ehrlich und in ihrer Kommunikation offen und direkt. Hintergedanken und Lügen sind ihnen fremd. Das hängt damit zusammen, dass sie sehr sachverbunden sind, während neuotypische Menschen eher auf dem Appellohr hören (was könnte das Gesagte eigentlich bedeuten). Man könnte auch sagen: wir sind eher misstrauisch und versuchen immer wieder eine versteckte Botschaft zu finden. Während autistische Menschen die Botschaft des Gesagten so annehmen wie sie ist. Entsprechend haben Sie Schwierigkeiten mit der Deutung von Ironie oder Metaphern und verharren in einem wortwörtlichen Verstehen.


Was ist mit der "Rain Man-Begabung". Gibt es die wirklich?

Ja, aber das ist kein Autismus-typisches Phänomen. Man spricht hier eher von einer Inselbegabung - dem sog. Savantismus. Nicht jeder Autist ist Savant. Inselbegabungen im Bereich Autismus macht gerade einmal 0,2% aus und wir tun den 99,8% aller Autisten unrecht, wenn wir alles auf diese 0,2% stützen. Die sind aber medenwirksam und bekommen ihre Filme, Biographien, Reportagen usw.. Deshalb denkt die Gesellschaft ah, das ist Autismus. Aber das ist nur ein kleiner Bruchteil.

Wie sind deine Erfahrungen was spätere Berufschancen betrifft?

Menschen mit Autismus können spezielle Interessen entwickeln und vertiefen diese mit einer außergewöhnlichen Begeisterung und Ausdauer, wodurch hervorragende Leistungen resultieren können. Machen Firmen nutzen diese Stärken gezielt. Aber man muss aufpassen, dass hier kein Ausnutzen entsteht; die Person mit Autismus nimmt sich vielleicht keine Pause und geht nicht nach 8 Stunden aus dem Büro sondern arbeitet fokussiert und autark weiter.

Die meisten Menschen mit Autismus haben jedoch keine Spezialinteressen, wie ja auch der Großteil von uns neurotypischen Menschen ohne Spezialbegabung unterwegs ist.

Ich arbeite mit vielen jungen Erwachsene, die lange arbeitssuchend sind und Schwierigkeiten haben Fuss zu fassen in einer schulischen Ausbildung oder auf dem Arbeitsmarkt. Hier ist noch viel zu tun!


Was kannst du uns raten für den Umgang mit autistischen Menschen?

Es kann helfen, sich eine Art autistisches Begreifen bzw. eine autistische Brille anzueignen. Dann fällt es einfacher zu verstehen, warum Menschen mit Autismus in bestimmten Situationen so reagieren, wie sie reagieren.

Man kann auch gezielt Dinge erfragen, z.B.: (wie) darf ich dich berühren, darf ich etwas von deinem Platz nehmen, statt das ungefragt zu tun. Räume eher reizarm gestalten. Überschaubare Situationen mit kleinen Gruppen schaffen. Handlungen zu kommentieren, z.B. "Achtung, ich mach jetzt den Staubsauger oder das Licht an."


Vielen Dank Benjamin für dieses informative und spannende Interview!


Hilfreiche Adressen und weiterführende Literatur:

  • Autistischen Kindern Brücken bauen - Ein Elternratgeber (von Sibylle Janert). Reinhardt Verlag

  • Autistische Störungen - Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher (von Fritz Poustka, Sven Bölte, Sabine Feineis-Matthews, Gabriele Schmötzer). Hogrefe Verlag

  • Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung - Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Eltern und Lehrer (von Dr. Vera Bernard-Optiz). Kohlhammer Verlag

  • www.autismus.kultur.de, www.autismus-institut.de


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